Am 1. August ist in Otelfingen vieles wie immer – Festbetrieb, Musik, Fahnen. Doch beim Singen der Nationalhymne kommt es zu einem Moment, der aufhorchen lässt: Nach der ersten Strophe des traditionellen «Schweizerpsalms» stimmt die Festgemeinde eine neue Version an. Klare Sprache, moderne Werte, ganz anderer Ton.
Otelfingen geht damit einen eigenen Weg – und das nicht zum ersten Mal. Bereits seit 2021 wird an der Bundesfeier der alternative Text gesungen. Gemeindepräsidentin Barbara Schaffner erklärt gegenüber zueriunterland24: „Wir handhaben dies seit 2021 so. Ich bin damals einen Aufruf gefolgt – woher weiss ich nicht mehr genau. Aber der Schwung für eine Modernisierung der Landeshymne war schon damals nicht mehr so gross, wie bei der Lancierung – und heute hört man immer weniger davon.“
In der Bevölkerung sei der Zusatz kaum ein Thema, sagt Schaffner:
„Reaktionen aus der Bevölkerung gab es kaum. Generell ist die Begeisterung für das Mitsingen der Hymne an unseren Feiern jeweils klein. Immerhin tönt es gut, da ich den Bands, die bei uns spielen, jeweils den Auftrag mitgebe, die Hymne vorzutragen.“
Für sie persönlich hat der neue Text eine klare Berechtigung:
„Als nicht-religiöse Person spricht mich der alte Text überhaupt nicht an. Daher war ich dankbar für die Initiative, einen neuen, modernen Text zu entwerfen. Dieser Text ist nicht überladen und findet eine gute Balance zwischen der Unabhängigkeit und doch Offenheit für den Rest der Welt.“
Ein Text, der die Schweiz neu denkt
Hinter der neuen Hymne steht ein mehrjähriger Prozess. 2014 ruft die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) zu einem Wettbewerb auf – gesucht wird ein zeitgemässer Text zur bestehenden Melodie. Über 200 Einsendungen gehen ein, am Ende setzt sich der Vorschlag von Werner Widmer aus dem Kanton Zürich durch.
Anders als der «Schweizerpsalm», der religiöse Bilder und Pathos transportiert, setzt der neue Text auf Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Er zeigt die Schweiz als modernes, vielfältiges und offenes Land.
Ein besonderes Zeichen ist die sogenannte «Schweizerstrophe», in der die vier Landessprachen abwechselnd erklingen – Symbol für gelebte Mehrsprachigkeit.
Von der Verfassung inspiriert
Der neue Text orientiert sich an der Präambel der Bundesverfassung. Das Ziel: mehr Nähe zur Bevölkerung, mehr Gefühl, weniger Distanz. Statt erhabener Formulierungen stehen Werte im Vordergrund, die heute verbinden.
Ein Lied, das bewegt – aber nicht offiziell ist
Noch hat die neue Hymne keinen offiziellen Status. Doch was in Otelfingen passiert, zeigt: Der Text lebt. Er wird gesungen, diskutiert, weitergetragen. Der «Schweizerpsalm» bekommt Konkurrenz.